Lehren und Lernen
Editorial: KI-Szenarien für die Hochschullehre? Ein persönlicher Kommentar
17. Juli 2023, von Prof. Dr. Gabi Reinmann
Ende der 1990er Jahre kursierte ein Text, der ein Szenario der „Universität im Jahre 2005“ schilderte (herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung). Unter denen, die sich damals für „neue Medien“ interessierten, wurde er hitzig diskutiert. Eine der zentralen Prognosen lautete, dass 2005 über die Hälfte der Studierenden in virtuellen Universitäten lernen würden; die traditionelle Präsenzuniversität würde dann deutlich geschrumpft sein. Warum ich gerade an diesen Text denke, dürfte daran liegen, dass da für mich erstmals ein konkretes Zukunftsszenario von Hochschulbildung gezeichnet worden ist, so wie wir das auch jetzt in Papieren lesen, die Künstliche Intelligenz (KI) ins Zentrum ihrer Visionen von Universitäten stellen. Und wieder sind es vor allem Stiftungen, die plakative Zukunftsszenarien verbreiten. Nun aber geht es nicht mehr darum, Präsenzuniversitäten durch virtuelle Universitäten zu ersetzen. Vielmehr sollen Präsenzhochschulen nun durch KI besser, effizienter und individualisierter werden.
Inhaltlich hat sich die Argumentation also deutlich geändert: Die Zukunftsszenarien um 2000 herum gingen davon aus, dass sich Rahmenbedingungen, Situationen und Werkzeuge virtualisieren lassen und uns von Raum- und Zeitfesseln befreien. Aktuelle Zukunftsszenarien setzen an der Frage an, was künstliche Intelligenz besser kann als menschliche Intelligenz, welche Kenntnisse und Fertigkeiten man braucht, um diesen KI-Mehrwert zu nutzen, und wie das Potenzial ausgefüllt werden kann, das durch Delegation von Routineaufgaben an KI frei wird.
Erstaunlich konstant geblieben ist in den letzten fast 25 Jahren allerdings die Denk- und Argumentationsrichtung im Rahmen der Szenarien-Entwicklung: Technische Entwicklungen sind der Motor für Digitalisierung und Verbreitung von KI; Bildungseinrichtungen wie Universitäten haben die Aufgabe zu reagieren und Menschen auf das, was da kommt, vorzubereiten. Universitäten haben nach dieser Logik keinen proaktiven, an der Entwicklung der Gesellschaft aktiv und gestaltend eingreifenden Part. Selbst Bildungsziele werden inzwischen von außerhalb der Universität definiert und eingefordert: Gerade hatten wir uns damit arrangiert, bildungstheoretische Überlegungen in die Sprache der Kompetenzorientierung zu übersetzen, um damit – was ja nicht verkehrt ist – die Verständigung mit Anschlusssystemen zu verbessern (wobei ich gar nicht weiß, ob das gelungen ist). Nun stehen wir vor bunten Grafiken mit sogenannten Future Skills, an denen wir universitäre Bildung in Zeiten von KI ausrichten sollen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Zukunftsszenarien als Impuls für Debatten im universitären Kontext sind gut und wichtig. Vermutlich spielt es auch keine gravierende Rolle, wenn diese kurios, widersprüchlich und theorieabstinent sind, sofern wir sie nutzen, um uns selbst in diese Debatte einzubringen – und damit meine ich nicht nur Universitätsleitungen und Lehrpersonen, sondern auch Studierende. Wir sollten uns nicht einfach Zukunftsszenarien vorsetzen lassen und dann gehorsam Strategien entwickeln, wie wir den Anforderungen und Möglichkeiten gerecht werden, welche die technologische Entwicklung vorgibt. Welche alternativen Zukunftsszenarien in Zeiten von KI sind vorstellbar? Was wollen wir als Menschen trotz oder wegen KI künftig wissen und können? Was ist verzichtbar, was ist nur scheinbar irrelevant geworden, was kommt neu hinzu? Was sind Routineaufgaben in der Lehre und im Studium und wann kann man sie guten Gewissens an KI delegieren? Was verlernen wir, wenn wir das tun, und welche Relevanz hat der entsprechende Kompetenzverlust?
All diese Fragen werden vielleicht in einigen Punkten disziplin- und fachübergreifend zumindest ähnlich beantwortet werden. Weitaus mehr Fragen, so vermute ich, werden disziplin- und fachspezifische Antworten hervorrufen, was Szenarien der einen Zukunftsuniversität wohl ohnehin obsolet macht. In einigen Fragen werden sich Lehrpersonen und Studierende vielleicht einig sein. In anderen werden sie divergieren und es ist dann zu klären, wie man damit umgeht: Was lässt sich aushandeln, was ist derart, dass es legitim erscheint, Überzeugungsarbeit zu leisten? Es ist anstrengender, miteinander zu sprechen und zu streiten, als einfach gestrickte Positionspapiere zu übernehmen oder sich auf politische Setzungen mit oder ohne wissenschaftliche Weihen zu berufen und didaktisches Handeln daran auszurichten. Diese Anstrengung aber scheint mir nötig.
Prof. Dr. Gabi Reinmann