Lehren und Lernen
Lehrentscheidungen treffen – dafür gibt’s keinen Wahl-O-Mat
12. Februar 2025

Foto: PixabayBruno
Als Lehrende treffen wir ständig Entscheidungen – manche schnell und intuitiv und andere wohlüberlegt, abwägend. Wir planen die inhaltliche und methodische Gestaltung, die studentische Aktivierung sowie Prüfungsaufgaben und -kriterien. Und dann kommen vielfältige kommunikative Herausforderungen hinzu, die sich erst in der Lehrveranstaltung ergeben, die unplanbar und gelegentlich durchaus herausfordernd sind. Wie können wir damit umgehen, wie eine richtige Wahl-Entscheidung treffen?
Die Lehre stellt uns vor vielfältige Entscheidungen. Schauen wir beispielhaft auf einige Fragen, die es abzuwägen gilt:
- Wie viel Vorgaben mache ich und wo lasse ich Freiraum, den die Studierenden selbst gestalten können? (Zeitliche Gestaltung)
- Gebe ich einer spontan auftauchenden Diskussion Raum oder halte ich an meiner ursprünglichen Planung fest? (Zeitmanagement)
- Was gebe und lebe ich vor, und wo bin ich offen für die Gestaltungsvarianten der Studierenden? (Präsentationen, schriftliche Ausarbeitungen)
- Setze ich immer die gleiche erinnerungsaktivierende Methode zu Beginn einer Sitzung ein oder denke ich mir für jedes Mal etwas Neues aus? (Methodenvarianz)
- Soll ich Literaturlisten bereitstellen oder die Studierenden erst einmal selber suchen lassen? (Quellen)
Allen diesen dilemmatischen Fragen ist gemeinsam, dass sie zwischen „Anleitung geben“ und „Autonomie fördern“ auszubalancieren sind. Für jede Seite lassen sich viele gute Argumente finden. „Anleitung und Hilfestellung zu Beginn des Studiums sind das A und O, um das wissenschaftliche Arbeiten zu erlernen – gerade am Studienbeginn“, so rufen uns etwa die Befürwortenden der einen Position zu (Anleitung geben). „Lass die Studierenden probieren und suchen, auch im Verlaufen liegen wichtige Lernerfahrungen“, klingt es möglicherweise von Autonomie-Befürwortenden der anderen Seite. Da es hier ums Abwägen geht, bleiben wir einen Augenblick beim Bild der Waage und schauen, was hier eigentlich auf die verschiedenen Waagschalen gelegt wird.
Was hier abgewogen wird, sind unsere auf Werten beruhenden Überzeugungen, die unser Lehrhandeln prägen. Diese können durchaus im Widerstreit miteinander stehen, konfligieren. Und die Frage, was denn nun richtig sei, lässt sich nicht so einfach beantworten. Wir sehen vielmehr im Bild der Waage, dass eine Seite „Übergewicht“ bekommen kann, wenn wir immer nur darauf Gewicht (Wert) legen. So könnten wir damit bei der Übertreibung (gängelnde Überreglementierung) von etwas an sich Gutem (Anleitung und Orientierung geben) landen. Damit wir in unserem Lehrhandeln nicht dorthin abrutschen, sollten wir uns also auch um die Qualität auf der gegenüberliegenden Seite der Waage bemühen (selbsttätiges Entdecken), die ausgleichend und ergänzend wirken kann.
Diese abwägende und ausbalancierende Herangehensweise kann auch in spontan auftretenden Situationen, von denen oben die Rede ist, nützlich sein. Eine studentische Äußerung wie: „Nun sagen Sie doch einfach, was richtig ist, anstatt uns hier ewig lang diskutieren und rumsuchen zu lassen“, können wir nun ausbalancieren und vor dem Hintergrund der zugrunde liegenden Werte betrachten. Wir könnten verstehen, dass eine solche Äußerung entstehen kann, wenn jemand sich alleine gelassen fühlt (= Übertreibung des Wunsches nach Orientierung) und genug davon hat, dass lange diskutiert wird (vielleicht zu lange? Das wäre die Übertreibung einer an sich positiven Diskussionskultur.). Als Lehrperson können wir innehalten, die Äußerung analysieren und die sich daraus ergebende Haltung einnehmen, etwa: „Es ist einerseits wertvoll, die Studierenden selber nach Lösungen suchen zu lassen bzw. zu erfahren, dass es die eine richtige Antwort nicht gibt. Manche könnten sich freilich dabei alleine gelassen und verloren fühlen. Damit das nicht geschieht, sollte ich auch ein paar Hinweise geben, woran sie sich orientieren können, ohne gleich die fertige Antwort zu liefern, was ihren Forschungsdrang bereits im Keim ersticken könnte.“
Den Hintergrund dieser Beispiele und Herangehensweise stellt das Modell der Werte- und Entwicklungsquadrate von Friedemann Schulz von Thun dar. Es gibt bei dieser Art der Betrachtung kein richtig oder falsch, vielmehr entfaltet sich ein Wert erst dann zur vollen Blüte, wenn er mit seiner Ergänzungsqualität zusammen betrachtet wird. „Wenn beide Qualitäten vorhanden sind, kann etwas Drittes entstehen“, schreibt er 2007 in seinem Buch Miteinander reden: Fragen und Antworten auf Seite 67. Zur gelingenden Lehre gehört dementsprechend, dass sie sowohl Orientierung und Anleitung anbietet als auch uns selbst und den Studierenden Autonomie gewährt – angeleitet, eingeübt und situativ angemessen.
Wenn wir die (Qual der) Wahl haben, dann kann eine wertequadratische Betrachtung uns helfen, die hinter einer Reaktion oder Handlungsweise liegende Grundüberzeugung zu finden, sie auszubalancieren und konstruktiv in unsere Entscheidungen einzubeziehen. Ein technikbasierter Wahl-O-Mat, der eine Entscheidungshilfe „auswirft“, ist das freilich nicht.
Von Angela Sommer